Lebensgeschichten CL (Teil 2)

[Beginn der Erstellung: Jul 2020. Wird laufend fortgesetzt]

 

Lebensgeschichten CL (Teil 2)

Inhaltsverzeichnis

17 Darmstadt 11.07.2020, Corona. 1

17.0 Darmstadt 1956-1958, Oberstufe am LGG.. 2

18 Darmstadt 20.07.2020, Corona & Klimaerwärmung. 4

18.0 Darmstadt 1957-1959, Oberstufe, Rom.. 4

19 Darmstadt, 20.07.2020, Ballermann-Skandal; Malen. 6

19.0 TH Darmstadt, 1959-1961, Studienbeginn, Spanienfahrt, Vordiplom, München. 6

20 Darmstadt, 10.08.2020 – Corona wieder stärker, Tübingen. 10

20.0 Darmstadt 1961-1963, Corps, Gertraut 10

 

17 Darmstadt 11.07.2020, Corona

Hallo Ihr Lieben,
vielleicht erstaunt Euch die ellenlange nun folgende Email. Ich fange an, den Teil2 der "LebensgschichtenCL" zu schreiben. Er wurde schon seit Jahren von einigen vermisst und angemahnt. Der Teil1 steht in www.cl-diesunddas.de  / Geschichten. Ich hatte meinen Söhnen, Sebastian, Felix versprochen, die LebensgeschichtenCL fortzusetzen. --- "Corona machts möglich".

Das letzte Mal schrieb ich Euch im Jan.2007 und beendete damit den Teil 1 meiner Lebensgeschichten mit einem Bericht aus den Jahren 1955/56. Was in den vergangenen 13 Jahren passiert ist, kommt dann hoffentlich selbst im Teil 2 vor. Wir, Gertraut und ich, sind seit 7 Jahren dankbare Nonnos (Großeltern) und freuen uns über die sprießenden Enkel: Die Zwillinge Ben + Simon (geb. 31.12.2012) von Jenny +Sebastian in Darmstadt, und Aylén (geb. 20.02.2024) + Nikolai (geb. 23.03.2019) von Ana + Felix in Coín / Andalusien. Mit den Enkeln begann ein neuer Lebensabschnitt für uns Alte.

Was ist zurzeit los? Die im Dezember 2019 in Wuhan (China) ausgebrochene Epidemie des Virus COVID-19 (Corona) wuchs sich seitdem zu einer weltweiten Pandemie aus. Über 200 Länder sind betroffen. Sie erreichte Deutschland Ende Februar 2020. Weltweit sind derzeit ca. 8,3 Mio. Infizierte und ca. 450.000 Todesfälle gezählt (wahrscheinlich sind es aber viel mehr). Seit Mitte März 2020 herrschen auch in Deutschland einfache aber strikte Schutzverordnungen (Hände desinfizieren in jedem öffentlichen Raum, 1,5 - 2 m Abstand zwischen 2 Personen, Gesichtsmaske zwingend, alle Massenveranstaltungen (z.B. Fußball, Heinerfest) abgesagt, viele Geschäfte geschlossen). Bisher hat man immer noch keinen Impfstoff dagegen gefunden. Fast alle wirtschaftlichen Aktivitäten, bei denen Menschen nahe zusammen kommen, sind seit März stark eingeschränkt. Lockerungen sind erst Ende Mai vorsichtig wieder zugelassen. Wie sich das auf die Wirtschaft in nächster Zeit auswirken wird, ist noch ziemlich unbekannt. Viele sprechen von der schlimmsten Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg.

Durch die Corona-Krise ist eine andere weltweite Bedrohung aus dem öffentlichen Bewusstsein fast verdrängt worden: Die Klimaerwärmung durch menschengemachten CO2-Ausstoß. Noch vor 1 Jahr erfasste die "Frydays for Future" Bewegung die Jugend der Welt. Ist sie nun schon wieder gestorben?

Die Corona-Krise hat auch ihr Gutes: Statt in die Disco zu gehen oder zum "Ballermann" nach Mallorca zu fliegen, gehen die Deutschen in ihren Schrebergarten. Der eingeschränkte Verkehr hat in Ballungsräumen zur Abnahme der Luftverschmutzung geführt. Das aber werden nur vorübergehende Verbesserungen sein. Irgendwann in den nächsten Monaten (oder in 1-2 Jahren?) werden Impfstoffe kommen. Ist die Coronakriese überwunden, so wird ihr Lerneffekt nach wenigen Wochen verpufft sein. Ich habe die Coronakrise zu Anlass genommen, mein Engagement bei der DBHV einzustellen. Jetzt hab ich mehr Zeit zum Malen. Schaut zum Beispiel auf meine Homepage www.cl-diesunddas.de / Aquarelle / Umgebung von Darmstadt! Da seht Ihr am Ende die letzten 8 Bilder, die ich seit März gemalt habe. (Insgesamt sind ca. 220 Zeichnungen und Aquarelle auf der Homepage gezeigt.)

Nun versuche ich, in die Vergangenheit einzutauchen.

17.0 Darmstadt 1956-1958, Oberstufe am LGG

Im Herbst 1956 begann für mich mit der Obersekunda (6. Gymnasiumsklasse) die Oberstufe am LGG (6.-8. Gymnasiumsklasse). Hier gleich die für mich entscheidende Tätigkeit, die alles andere in jenen Jahren beeinflusste: Es war das Theaterspielen im LGG-Schultheater.

Wir führten mehrere antike Komödien auf, in denen ich meist eine komische Figur spielte. Bernhard Rschehak führte ein paar modernere Stücke auf, bei denen ich ebenfalls mitspielte.

Das Auswendiglernen von Text und sein freies Aussprechen, untermalt von bewusst eingeübten Körperbewegungen, Gesten und Mimiken (die mir rein passiv bereits von meinem Vater her geläufig waren (er war Schauspieler), ohne dass ich auf die Idee gekommen wäre, sie selbst anzuwenden) hatten bei mir eine durchschlagende Wirkung in mehrerer Hinsicht: Lampenfieber hatte ich zum Glück fast keines. Aber ich spürte bei jeder meiner sprachlich-choreographischen Mikroaktionen auf der Bühne die Reaktion des Publikums, obwohl man die Zuschauer wegen des Rampenlichts gar nicht deutlich sah, aber man vernahm ja ihre Geräusche. Ich merkte, dass man das Publikum durch die eigenen Aktionen auf der Bühne lenken konnte. Das machte mir bald riesigen Spaß und eröffnete mir zugleich die Möglichkeit, meine eigenen Mikroaktionen bewusst der Situation anzupassen, so dass der erwünschte Effekt auf "den Zuschauer" gesteigert werden konnte. Ich erfand während des Spiels u.a. auch kleine "Kunstpausen", die der Optimierung der Wirkung dienten. Wie ich merkte, hatten die meisten mitspielenden Schüler davon keine Ahnung, so etwas ad hoc und realiter bewusst zu entwickeln. Sie sagten in steifer Körperhaltung halt einfach ihren Text auf. Die (eher zufällig) dabei (passierenden oder auch nicht passierenden) Publikumsreaktionen irritierten sie mehr, als dass es sie zur Modifikation ihres Agierens auf der Bühne angeregt hätte. Sie spielten eben eher "vor" als "mit" dem Publikum.

Was war nun die Wirkung des Theaterspielens auf mich selbst bzw. auf meine Leistungen in den Schulfächern? Ich fing an "anders zu lernen": Den Erfolg und die Erkenntnisse beim Theaterspielen wandte ich auf das Schulfächer-Lernen an (egal ob es um Deutsch, Geschichte, Biologie, Chemie, Mathe usw... . ging): es wurde aktiver, bewusster und mit dem Ziel, es vor dem Lehrer und der Klasse gut darstellen zu können. Das war ein völlig neues Ziel, das ich früher nie im Auge hatte und das ich, dank des Theaterspielens, nun mit dem "Lernen des jeweiligen Wissensstoffes" verband. Im Deutschen war auf einmal die Jahre lange "Lesehemmung" verschwunden, denn ich hatte (dank des Theaterspielens) aktives Interesse, wenn auch nicht immer am Inhaltlichen, so doch an guter sprachlicher, tonmäßiger und (!) mimischer Darstellung von Text gefunden.

Ein Beispiel: Im Deutschunterricht nahmen wir u.a. von Gerhart Hauptmann das Stück "Die Weber" durch und hatten einen Ausschnitt mit verteilten Rollen laut zu lesen. Das Stück spielt in Schlesien, viele Stellen waren im schlesischen Dialekt zu lesen. Keiner in der Klasse konnte Schlesisch, ich kannte es recht gut von Vater (das war ja seine Heimat gewesen). So viel ich beim Vorlesen automatisch in den schlesischen Dialekt. Alle in der Klasse -- einschließlich des Deutschlehrers, Herr Almanritter -- waren erstaunt, dass ich das konnte. Ich hatte also nicht nur meine Jahre lange Lesehemmung überwunden, sondern konnte den vorzulesenden Text darüber hinaus auch noch "dialektisch" ausschmücken. So kam ich im Deutschen bald von einer schwachen 4 auf eine 2.

Anderes Beispiel: In der Obersekunda vergab der Mathe-Lehrer, Herr Haas, Hausarbeiten. Ein Thema war die Konstruktion der Kegelschnitte. Ich meldete mich, da das Thema etwas mit geometrischem Zeichnen und Konstruktion (Zirkel & Lineal) zu tun hatte und nichts mit z.B. jenen langweiligen Sinus/Cosinus-Berechnungen. Haas war erstaunt und warnte mich, das sei doch zu schwierig für einen Schwach-4-Kandidaten. Das Theaterspiel hatte mich etwas selbstbewusster gemacht, und ich antwortete, ich wolle es trotzdem machen. Paar Wochen später war es so weit. Ohne irgendein schriftliches Konzept setzte ich mich (wie das oft auch der Lehrer tat) auf einen der vordersten Tische und fing an zu reden. Herr Haas wurde ärgerlich, ich solle gefälligst aufrecht an der Tafel vor der Klasse stehen. Nun, da ging ich an die Tafel und begann mit Zirkel & Lineal zu zeichnen, wobei ich Erklärungen abgab. Und bald hatte ich alle Kegelschnitt-Konstruktionen (für Ellipse, Parabel, Hyperbel) auf die Tafel gebracht. Das dauerte, glaube ich, nicht länger als ca. 35 Minuten. Herr Haas war sprachlos. Wie kann ein schwacher Vierer-Schüler so was auf einmal hinzaubern?

Kurz danach legte ich noch einen perfekten Vortrag in Chemie hin über die chemischen und mechanischen Prozesse bei der Benzin- und Kunststoff-Gewinnung aus Rohöl. Haas war auch unser Lehrer in Chemie. -- Ich hatte gewonnen und galt zum Erstaunen der Klasse ab da als eine Koryphäe in Naturwissenschaften (obwohl ich im Kopf- und Formelrechnen noch ziemlich unzuverlässig war). Das ermunterte mich später auch, Teilnehmer der (freiwilligen) "Mathe-AG" zu werden, wo uns ein durch den Krieg verhinderter Hochschullehrer (Herr Dr. Buggisch) die Anfänge der Hochschulmathematik beibrachte, und ich von da ab statt Karl May nur noch Mathe-Bücher las. (Nie vorher wäre mir so was eingefallen!)

So bin ich durch das Theaterspielen innerhalb von wenigen Wochen der Obersekunda & Unterprima in fast allen Schulfächern sozusagen "erwacht" und sprang von 5 /4-/ 4 auf 3 /2 /1. Nur in Religion sank ich von 2 auf 3 ab, denn ich hatte mich (als einziger in der Klasse) geweigert, die Konfirmation mitzumachen. Den (evangelischen) Katechismus hatte ich zwar eingehend studiert (sicher gründlicher als alle anderen evangelischen Schüler unserer Klasse), aber seine "Bekenntnisse" nicht akzeptiert. Den Herrn Pfarrer Press bat ich, weiterhin am Religionsunterricht teilnehmen zu dürfen, weil ich durchaus Interesse am Inhalt der Bibel bekommen hatte; das aber mehr aus historischen und nicht aus Glaubensgründen. Herr Press war so klug, das zu akzeptieren, aber am Schuljahr-Ende erschien im Zeugnis halt eine 3 statt einer 2 in diesem Schulfach.

Nun, ich mache jetzt erst einmal Schluss. Habe für ein Email schon viel zu viel geschrieben. Das nächste Mal kommt Rom und das Abitur (einschließlich der damaligen Politik-Situation) an die Reihe.

In Liebe Euer Christoph

18 Darmstadt 20.07.2020, Corona & Klimaerwärmung

Hallo liebe Söhne, Schwiegertöchter, Familie, Freunde:

Hier schon die zweite Email (von sicher noch vielen) zu den „Lebensgeschichten CL Teil2“. Ich muss mich sputen, denn mit jetzt 81 weiß ich nicht, wann ich dement werde.

Vorbemerkung: Ich hatte es schon im Teil1 der Lebensgeschichten CL mehrmals erwähnt (siehe www.cl-diesunddas.de / Geschichten): Diese persönlichen Rückblicke können gar kein Bericht "reiner Fakten“ aus der Vergangenheit sein. In sogenannten "Erinnerungen" stellt sich Vergangenes stets wieder anders dar, je nach dem Moment, wo man es aufschreibt. Das gilt nicht nur für rein persönliche Erinnerungen sondern auch für die begleitende sog. "objektive Zeitgeschichte". Darum entsteht in jedem Jahrzehnt "Geschichte" immer wieder neu, obwohl dieselbe schon x-mal aufgeschrieben wurde.

Das ist auch der Grund, warum ich (wie auch schon im Teil1) in jeder neuen Email im Vorspann zu den persönlichen "Erinnerungen" die gegenwärtige Lebenssituation und Politik des jeweiligen Momentes kurz skizziere, in welchem ich die "Erinnerungen" an einen vergangenen Lebensabschnitt aufschreibe.

Kurz gesagt: "Geschichte" ist nie eine bleibende Sammlung von "Fakten" sondern ein Prozess, in dem Vergangenheit und dokumentierende Gegenwart untrennbar verbunden sind; und das Verhältnis der beiden ändert sich wiederum andauernd in dem Moment, wenn es ein Dritter in der Zukunft liest.

2020 scheint in Deutschland das dritte Dürrejahr in Folge zu werden. Seit März gab es fast nur "schönes Wetter". In Norddeutschland sehen die Wälder verheerend aus, nicht nur die Nadelbäume sondern auch die Buchen. Mit den wenigen Regengüssen sind vielleicht nur 20 cm Waldboden zeitweise befeuchtet, aber darunter sind fast 2 m staubtrocken, so dass die Bäume trotz gelegentlicher Regentropfen verdursten. Der Darmbach bei uns ist zz. wieder mal total ausgetrocknet. Vor paar Tagen hab ich daher -- statt einer schönen Landschaft -- umgestürzte Waldbäume am Darmbach gemalt (siehe www.cl-diesunddas.de / Aquarelle / Aq Umgebung Darmstadt, Bild Nr. 29).

Bewirkt Corona vielleicht doch einen wirtschaftlich-gesellschaftlichen Paradigmenwechsel (wenigstens in Deutschland)? Die Menschen haben während des Lockdowns gemerkt, dass sie nicht so viel kaufen müssen, um zufrieden zu sein. Es gibt 2 Parteien zur Wieder-Ankurbelung der Wirtschaft nach den Corona-Lockdowns: Das Lager des „Mehr“ und das Lager des „Weniger“. Die „Mehr“-Befürworter meinen, die Wirtschaft lasse sich nur durch mehr Konsum retten; sie behaupten das z.T. sogar bezüglich der Klimaerwärmung! Den Beweis sind sie bislang schuldig geblieben. Die Argumente der „Weniger“-Befürworter sind dagegen eigentlich schon Jahrzehnte alt und durch viele Studien von der Wissenschaft begründet. Sie sind bisher nur bagatellisiert worden. Schafft es Corona, dass sie nun ernsthafter beherzigt werden??

18.0 Darmstadt 1957-1959, Oberstufe, Rom

Politische Ereignisse nahmen wir Kinder schon ab 1956 ziemlich bewusst wahr. Besonders in Erinnerung ist mir die Entstalinisierungskampagne durch Nikita Chruschtschow in der Sowjetunion und die Suezkriese zwischen Ägypten auf der einen Seite und Großbritannien, Frankreich und Israel auf der anderen Seite. Auslöser war die Verstaatlichung der mehrheitlich britisch-französischen Sueskanal-Gesellschaft durch den Präsidenten Ägyptens, Gamal Abdel Nasser.

Mit dem Start des sowjetischen Sputnik-1 begann 1957 das Zeitalter der Raumfahrt. Es folgten weitere Sputniks in 1958. Das war ein Schock für die USA. Die NASA wurde bald darauf gegründet.  Das wichtigste innerdeutsche Ereignis 1957 war die Wahl Willy Brandts zum Regierenden Bürgermeister von West-Berlin. Ich konnte die prägnante Stimme von Willi Brandt gut nachmachen und unterhielt die Klasse mit "Brandt-Reden".

Nach der Algerienkrise  wurde 1958 mit Charles de Gaulle die Fünfte Französische Republik ausgerufen. Anfang 1959 stürzten die kubanischen Revolutionäre unter der Führung von Fidel und Raúl Castro und des Argentiniers Ernesto „Che“ Guevara, den kubanischen Diktator Fulgencio Batista. Für uns Jugendliche dauerte es aber noch ein paar Jahre, bis Castro und Che zu unseren Idolen wurden.

Das Jahr 1958 (Unterprima, d.h., vorletztes Schuljahr am humanistischen LGG – Ludwig Georgs Gymnasium, Darmstadt) verging mir in Hochstimmung: Theaterspielen, Erfolge in allen Schulfächern, klassische Musik, Hausbälle, bei denen Hanne, meine komplizierte Tanzstundenliebe, nicht fehlen durfte usw. ...

Sogar in den altphilologischen Fächern Griechisch und Latein, in denen ich fremdsprachlich eigentlich eine "Null" blieb, kam ich auf 3, weil nun die schnöden Übersetzungen nicht mehr im Vordergrund standen, sondern die antike Philosophie (im Griechischen) und die Poesie (im Lateinischen) im Unterricht besonders wichtig wurden. Ich entwickelte mich zu einem „kleinen Philosophen", was den Lehrern sehr gefiel. Mit Dr. Schollmeier (Griechisch) führte ich (da ich in der vordersten Schulbank saß) zeitweise einen Dialog (u.a. über die Vorsokratiker und über Sokrates), an dem die übrige Klasse fast keinen Anteil nahm -- nicht einmal der Klassenprimus Hans, das Übersetzungsgenie. Mit der Klassenkameradin Wendela verband mich eine Freundschaft, die auch später fast die ganze Studienzeit anhielt, weil sie die einzige war, die an Mathematik wirkliches Interesse zeigte und dann auch selbst Mathematik studierte.

Dann kam die LGG-Studienfahrt zur „ewigen Stadt“ Rom im September 1958, geführt von Dr. Gerhard, dem drolligen, extravaganten Lehrer, der uns mit unermüdlicher und ansteckender Begeisterung durch die antiken Ruinen und unerschöpflichen Museen und Kirchen Roms führte. Etwa 10 Tage lang waren wir mehr als 10 Stunden täglich mit Dr. Gerhard unterwegs und kehrten abends glücklich und total erschöpft in die Jugendherberge in Trastevere zurück. Es hat keinen Zweck, hier all die unendlich vielen Orte und Erlebnisse mit Dr. Gerhard in Rom aufzuzählen. Wir erlebten in Rom die Schuljahre lange humanistische, teils anstrengende Erziehung am LGG wie in einem „Feuerwerk“ noch einmal nach. (Selbst in meinem damaligen Tagebuch habe ich vor lauter Fülle ganz wenig darüber notiert, weil mir die „geschichtlichen Fakten“ ja vertraut waren.) – Was mir am deutlichsten in Erinnerung ist, sind ein paar phantastische Apollo-Torsos aus dem Tiber, die mich auch noch Jahre später zu poetisch-philosophischen Ergüssen animierten; besonders, während ich etwa 1959 von Friedrich Nitzsche die „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“, wo das „Apollinische“ dem „Dionysischen“ gegenübergestellt wird, wie eine Offenbarung verschlang.

– Details über das antike und mittelalterliche Rom könnt Ihr ja in Wikipedia nachlesen, wenn Ihr wollt.

Nur eine köstliche private Begebenheit möchte ich kurz schildern: Ulla war die most sexy lady in unserer Klasse, die natürlich von den italienischen Jünglingen pausenlos belagert wurde. Als sie davon die Nase voll hatte, schickte sie zu einem letzten Rendezvous, statt sich selbst die schüchterne Klassenkameradin Hannelore. Kräftig mit Schminke und scharf ausgeschnittenem Kleid aufgemöbelt wurde Hannelore abends um 9 Uhr zum vereinbarten Ort geschleift. Der Italiener stutze etwas, weil er das Objekt seiner Begierde etwas anders in Erinnerung hatte. Ich konnte zwar kein Italienisch, hatte aber schon damals ein gutes Gehör für den „italienischen Ton“, den man nur auf unser gelerntes Latein anzuwenden brauchte, so dass ein etwas merkwürdiger italienischer Dialekt draus wurde. Und so machte ich dem Verehrer in „lateinisiertem Italienisch“ klar, dass Hannelore die Richtige für ihn sei. Wendela sagte mir später, sie sei erstaunt gewesen, dass ich auf einmal fähig war, mich in „fließenden Italienisch“ zu verständigen; es hätte fast so perfekt geklungen wie das Italienisch von Dr. Gerhard. (Na ja, die Vorliebe für lebende Sprachen [statt der toten: Latein / Alt-Griechisch] war ja schon 1954 im Schwedischen in mir aufgekeimt und war später der Grund, warum ich in wenigen Wochen das Spanische gelernt habe und zwar so gut wie ohne irgendeinen deutsche Akzent.)  Nun, Hannelore hat es überlebt und hat sicher noch lange von dem „erzwungenen“ erotischen Erlebnis gezehrt.

Das schriftliche Abitur war schon Ende Februar 1959 rum (in Mathe, Physik, Chemie, Biologie und natürlich Kunst war ich der 1 sicher). Fürs Mündliche (Anfang April) bat uns Herr Almanritter (Deutsch), wenigstens ein Gedicht zu nennen und auswendig zu lernen, das dann ggf. im Mündlichen abgefragt würde. – Ein Gedicht?? – Ich hatte damals, begeistert von der Deutschen Lyrik des 18.+19. und angehenden 20. Jh., hunderte Gedichte im Sinn und erstellte Herrn Almanritter eine Liste von 30 Gedichten, die ich mündlich (und natürlich auswendig) vortragen könnte (Hölderlin, Goethe, Nietzsche, Benn, Brecht, Dehmel, George, Hesse, Heym, Hofmannsthal, Krolow, Morgenstern, Rilke, Trakl, Wedekind, Werfel, Zuckmayer,…).  Leider ließ man mich in der mündlichen Deutsch-Prüfung (aus unerfindlichen Gründen) kein Gedicht vortragen; und so landete ich in der Deutsch-Endnote doch auf 2 statt, wie erhofft, auf 1; das ärgerte meinen Ehrgeiz.

Das nächste Mal erzähle ich vom Studienbeginn an der TH Darmstadt und von einer Spanienfahrt.

Alles Liebe, Christoph

 

19 Darmstadt, 20.07.2020, Ballermann-Skandal; Malen

Hallo Familie & Freunde, die Ihr schon wieder von der nächsten langen Email meiner „Lebensgeschichten-CL, Teil2“ bombardiert werdet.

Mit den „Corona-Lockerungen“ konnten viele deutsche Urlauber doch (wie jedes Jahr) zum ersehnten deutschen (und englischen) Standard-Paradies Mallorca fliegen. Auf dem „Ballermann“, der „Deutschen Bier- & Schinken-Meile“ ging es vorige Woche so hoch her – und unter völliger Missachtung der üblichen Corona-Schutzregeln! –, dass die spanische Inselregierung schon nach wenigen Tagen alle Vergnügungslokale für zwei Monate wieder schließen ließ – zum Schreck der Barinhaber und der Sauf- & Fress-Touristen, aber zur Beruhigung aller anderen Inselbewohner. Sonst wäre der „Ballermann“ wahrscheinlich prompt zu einem Corona Hotspot wie der Tiroler Skiort Ischgl geworden. (Was die Nachwirkungen dieser Ballermann-Tage sein werden, weiß man noch nicht.)

Ich bin zurzeit jede Woche mindestens 1x im Odenwald und aquarelliere. Das ist eine erquickende Konzentrationsübung, die den Kopf leer macht von den Emotionen, die beim Aufschreiben der „Lebensgeschichten-CL, Teil2“ hochkommen. Ich binde sie meist umgehend in meine permanente Online-Ausstellung (www.cl-diesunddas.de / Aquarelle) ein.

Corona wird uns weiterhin beschäftigen. Ein wirksamer Impfstoff ist ja immer noch nicht in Sicht. Corona gebe, dass dieser Irrwisch von einem USA-Präsidenten, Trump, der die USA-Politik korrumpiert und durcheinander gebracht hat, bald von der Bildfläche verschwinden möge (USA Neuwahlen, November 2020, sofern Trump es nicht doch fertig bringt, die Wahlen zu verschieben).

Nun ein weiterer kleiner Schritt in die Vergangenheit:

19.0 TH Darmstadt, 1959-1961, Studienbeginn, Spanienfahrt, Vordiplom, München

In der BRD wird 1959 Heinrich Lübke Nachfolger von Bundespräsident Theodor Heuss. Als er einige Entwicklungsländer in Afrika besuchte, verwechselte er manchmal den Namen des besuchten Landes und begrüßte die Leute mit „Liebe Neger …“. Der gute, bescheidene Lübke war für uns Jugendliche von Anfang an bis in die 70-er Jahre eine Quelle des Spotts – sicher zu Unrecht.

Die SPD richtete sich mit ihrem Godesberger Programm in Richtung Marktwirtschaft und Akzeptanz der Bundeswehr neu aus.

Bald nach Abschluss des Abiturs am LGG, April 1959, meldete ich mich an der TH Darmstadt zum Studium an. Architekt wollte ich nicht mehr werden, denn man sagte mir, es gäbe in Darmstadt schon zu viele davon. Auch von meiner Neigung zum Theaterspielen riet mir mein Vater in einem ernsthaften Gespräch dringend ab. Er bat mich inständig, vom Theater als Berufsziel abzusehen; er sagte, er wolle mir damit eine „Hölle“ ersparen. Ich tippte daher auf Mathematik oder Chemie. In der Mathe-AG am LGG hatte Herr Dr. Buggisch uns Angst gemacht vor den Hürden in der Mathematik. Also schrieb ich mich nach einer Aufnahmeprüfung (Ende April 1959) an der THD erst mal in Chemie als Hauptfach ein.

Das Praktikum in Anorganischer Chemie behagte mir nicht so recht. Die Kocherei im Labor war anstrengend und erschien mir ziemlich fruchtlos. Ich lernte damals einen Palästinenser, Michael, kennen, mit abenteuerlich gebrochenem Deutsch begabt, der in der Chemie- Kocherei wesentlich geduldiger und erfolgreicher war als ich. Wir sind noch heute befreundet. Ich hingegen legte mich mit einem stupiden Chemie-Assistenten an, der mir aus Rache für meine kritischen Bemerkungen zur damaligen Laborpraxis lauter unlösbare Analyseaufgaben gab. Dagegen verliefen die Zwischenklausuren im ersten Mathe-Semester viel problemloser, als Dr. Buggisch uns das angedroht hatte. Bald gegen Ende des Sommersemesters 1959 wechselte ich daher zum Hauptfach Mathematik und ging einfach nicht mehr ins Labor.

Im Oktober 1959 wurde ich für den Wehrdienst gemustert und als „gut-tauglich“ befunden. Mein Antrag auf Stundung des Wehrdienstes mit der Begründung, ich sei „mitten im Studium“, wurde abgelehnt. Ich sollte mich jedes Jahr bei der Wehrdienststelle zur Verfügung stellen. Als ich dies im Jahr darauf tat, wussten sie nichts mit mir anzufangen, und ich konnte weiter studieren. Wir 1938-er waren der erste Jahrgang der zum Wehrdienst einberufen wurde. Offensichtlich gab es 1959/60 noch zu wenig Kasernen und militärische Ausbildungsstätten. Ich ging da nie mehr hin und wurde in Ruhe gelassen.

Jeder TH-Anfänger hatte in den Semesterferien ein Industriepraktikum zu absolvieren. Ich machte dies im Sommer 1959 für ca. 3 Monate in einem Werk für Heizkörper in Pfungstadt, wo ich in der Unterprima schon mal gejobbt hatte. Das machte mir eigentlich Spaß. Ich lernte wie jeder andere Lehrling das Feilen, Metallschneiden, Metallfräsen, Bohren und schließlich, als Höhepunkt, an der Drehbank das Drehen von irgendwelchen Nippeln. Daneben lernte ich (was nicht zum Praktikumsprogramm gehörte, mir aber viel aufschlussreicher war) von den Arbeitern die ganze Palette der südhessischen Dialekte kennen, die von Arheilgen (im Norden von Darmstadt) bis tief im Süden an der Grenze zum Badischen in Weinheim kamen. Damit wurde mir die Südhessische Sprache immer vertrauter, und ich konnte im Lauf der Zeit all diese hessischen Dialektvarianten gut unterscheiden und zum Teil auch nachmachen.

Es war ein traumhaft heißer, trockener und windiger Sommer, 1959, und ich schwelgte beim Nachhause- Fahren mit dem Fahrrad von Pfungstadt nach Darmstadt in jener voll entwickelten Sommernatur des Waldes (und verfasste einige Gedichte darüber). Das war gewissermaßen ein Ausgleich dafür, dass ich wegen des Industriepraktikums mit den Eltern und Schwestern nicht nach Norditalien in den Urlaub mitfahren konnte.

Was war noch? Die ganzen Jahre von 1959 bis etwa 1967 hörte ich im Überfluss hunderte Stücke klassischer Musik, kannte sie auswendig, erkannte ihre Identität an nur wenigen Takten und beschrieb die einzelnen musikalischen Motive und Sätze jedes Stücks ausführlich in meinen Tagebüchern. Zum Teil war Hanne dabei, wenn ich in Konzerte ging. Ich versank in unendliche Anbetung, wenn sie mir auf dem Klavier Stücke vorspielte. Denn ich selbst war sehr unbegabt, irgendein Musikinstrument zu lernen, aber ich meinte, die gesamte klassische Musik „voll verstanden“ zu haben. Sie versorgte übrigens auch die protestantische Kirche in Rossdorf mit der Orgelmusik für die wöchentlichen Kirchenandachten. Ich war begeistert und wusste nicht recht, ob es nun Liebe zu Hanne oder Bewunderung ihrer musikalischen Fähigkeiten war, die mich zu ihr hinzogen. Ich war damals ziemlich unempfänglich gegenüber irgendwelchen Annäherungen anderer Mädchen, die mich wohl gerne „gehabt“ hätten.

Das Wintersemester 1959-60 war sehr anstrengend. Ich hatte mir ein Vorlesungs- & Übungs-Pensum von 60 Wochenstunden vorgenommen (25 bis 30 waren die Regel), weil ich nach dem Wechsel von Chemie nach Mathematik einiges nachzuholen hatte. Auch Schwester Ulrike war sehr fleißig mit ihrem Medizinstudium an der Uni Frankfurt. Sie machte ein Praktikum am Krankenhaus in Crailsheim und wohnte bei Tante Carla (Schwester meiner Mutter), die in Crailsheim Landärztin war. Wir waren oft in Crailsheim und lernten beim Bauer Scheu die Tochter Brigitte kennen. Sie war ein hübsches Mädchen mit tadelloser Figur und etwas verträumt anmutendem Charakter, spielte sehr gut Klavier (was mich, wie bei Hanne, ungeheuer beeindruckte; besonders, wenn sie die „Kinderszenen“ von Robert Schumann spielte; -- ich kann sie heute noch auswendig) und pflegte mit Tante Carla die „Hausmusik“.

Im Sommer 1960 leisteten wir 4 Jugendlichen (Schwester Ulrike, Brigitte, der Palästinenser Michael und ich) uns die erste Spanienfahrt im VW-Käfer und zelteten in Blanes an der Costa Brava. Ich hatte mir in den Urlaub das poetisch-philosophische Werk Also sprach Zarathustra von Friedrich Nietzsche mitgenommen. Micha wunderte sich und fragte: „was liest du da Komisches? Wer ist der Herr Sarahstrusa?“ (das Wort „Zarathustra“ konnte er nicht aussprechen, denn im Arabischen werden, gegenüber manchen europäischen Sprachen, oft Konsonantenfolgen vertauscht, so dass es etwas weicher klingt [z.B.: Kokodril – wie im Spanischen – statt Krokodil; Al-Iskandriya statt Alexandria].)

Im „Zarathustra“ (der eigentlich wenig mit dem persischen Religionsstifter Zarathustra / Zoroaster zu tun hat) spiegelt sich Nietzsches dichterische Reflexion auf seine eigene Philosophie wider – manchmal selbstironisch, oft leidenschaftlich und überpathetisch, oft mit maßloser Übertreibung. Besonders aber den manchmal aufleuchtenden Anflug der Selbstironie bewunderte ich sehr, weil ich so etwas bei anderen Philosophen immer vermisst hatte ("das Lachen des Zarathustra").

In Blanes lernten wir zwei freundliche Burschen aus Barcelona kennen, die uns die verwinkelte Altstadt von Barcelona zeigten und uns auch in den ersten Stierkampf führten, wo wir mit derselben Begeisterung wie die Katalanen das grausame „Spiel zum Tode“ mit den armen Stieren verfolgten. Es war die Franco-Zeit, in welcher der offizielle Gebrauch des Katalanischen verboten war und die Katalanen in der Öffentlichkeit nur Spanisch sprechen durften. Wir merkten gar nicht, dass wir bei den Burschen eher ein bisschen Katalanisch und nicht Spanisch lernten.

Ziemlich pünktlich, nach 4 Semestern, meldete ich mich 1960/61 zur Vordiplomprüfung an. Die Examina verliefen einigermaßen zufriedenstellend. Besonders die Ergebnisse in der „Technischen Mechanik“ freuten mich. Da hatte ich am besten abgeschnitten.

In dieser Zeit freundete ich mich mit einem kleinen, etwas pummeligen aber sehr leidenschaftlichen Mädchen an. Irm (Irmingard) hieß sie und konnte wunderbar „knutschen“. Ich war (außer beim „Knutschen“) jedoch nicht immer bei der Sache, denn ich merkte, dass sie mich „haben“ wollte; und das verursachte mir Probleme, denn ich hatte nicht vor, mich fester zu binden. Die Familie von Irm war mir zu „bürgerlich“. Wenn ich mehr wollte als nur „Knutschen“ hieß es: „Schön lieb und brav sein! Das andere kommt, wenn wir verheiratet sind“. – Solche Äußerungen schreckten mich dermaßen ab, dass ich glaubte, in ein „Gefängnis“ zu geraten. Das nehmen der Pille war damals noch nicht üblich!

Nach dem Vordiplom gönnte ich mir das Wintersemester 1960/61 als „Freisemester“ an der TU in München. Irm (die irgendein Praktikum in Frankreich absolvierte) schrieb mir pausenlos Briefe, die ich meist pflichtbewusst beantwortete. Studieren tat ich nicht viel, lernte jedoch immerhin die Theorien der (statistischen) Thermodynamik und der Speziellen Relativitätstheorie (in der „pseudoeuklidischen“ Schreibweise mit dem imaginären Zeitparameter, die später auch der berühmte britische Physiker und Kosmologe Stephen Hawking benutzte, um die physikalische Singularität des sog. „Urknalls“ mathematisch zu umgehen). Ich verdiente mir die Kosten fürs Skifahren u.a. durch Schneereinigung der Straßen. Früh um 4 Uhr ging’s raus auf die Straße Schnee schippen. Um 7 Uhr kehrte man erschöpft aber frohen Mutes ein ins Donisl am Marienplatz zum Weißwurst- & Bier-Frühstück. Dann ab mit dem Bus zum Skifahren. Auch die vielen Studenten-Tanzfestivals machte ich mit und vergnügte mich ausgiebig mit irgendwelchen Mädchen, die mich allerdings nicht besonders interessierten. Ich hing immer noch sowohl an Hanne als auch an Brigitte.

Brigitte hatte mittlerweile das Musik- & Klavierstudium in Stuttgart begonnen. Ich trat von München aus in einen intensiven Briefdialog mit ihr ein über Theorie und Praxis der Musik. Sie antwortete mir stets sehr präzise und ausführlich und gab mir oft einen Dämpfer auf meine schwärmerischen und laienhaften, philosophisch angehauchten Ausführungen, indem sie sowohl die harte Disziplin als auch die unglaublichen Feinheiten des praktischen Klavierstudiums hervorhob. Das beeindruckte mich genauso wie ihr wundervolles Klavierspiel, und ich fing an, mich aus der Ferne heftig in sie zu verknallen. Als ich sie in Stuttgart einmal besuchte, beschloss ich jedoch, diese schwärmerische „Fernbeziehung“ zu beenden und sagte ihr das auch. Sie ist später in der Schweiz eine bekannte, professionelle Pianistin geworden.

Schluss für heute! Bleibt alle gesund und seid herzlich gegrüßt von
Christoph

20 Darmstadt, 10.08.2020 – Corona wieder stärker, Tübingen

Hallo Familie & Freunde,
ich sitze auf der schönen Terrasse bei Irmgard in Pfrondorf bei Tübingen, wo ich gemalt habe. Es ist seit Tagen strahlendes Wetter. Die Wälder trocknen immer mehr aus. Die Zeit ist günstig, mit der 4-ten Email der „Lebensgeschichten-CL Teil2“ fortzufahren.

Die Corona-Infektionen nehmen wieder zu, Leute werden leichtsinnig. Und da muss man halt privat bleiben und hat mehr Zeit zum Schreiben. Wir haben einige Besuche im August abgesagt.

Diese lächerlichen Demonstrationen von Wirrköpfen – auch in Darmstadt, besonders aber letzte Woche in Berlin – welche behaupten, die einfachen Corona-Beschränkungen (Abstand, Gesichtsmaske, Desinfektion der Hände) würden die sog. Freiheit und gar die Menschenrechte attackieren, und die auch noch öffentlich auffordern, die einfachen Schutzmaßnahmen zu sabotieren, finde ich nicht nur absurd sondern eine Ungeheuerlichkeit. Sie sollten sofort und pauschal mit empfindlichen Geldstrafen belegt werden. (Leider haben wir kein Sibirien, wohin man solche egoistischen Idioten umgehend verschicken könnte.)

Die Corona-Situation in USA wird immer dramatischer, und das hilflose Verhalten des USA-Präsidenten Trump wird immer konfuser. Vor ein paar Tagen äußerte er, die Präsidentenwahl (Nov.2020) verschieben zu wollen, aber er wurde gebremst; dafür existieren immerhin unumgehbare Satuten in den USA.

Die fast-autoritären Regime in den EU-Mitgliedsstaaten Polen und Ungarn schreiten auf ihrem Weg der Entdemokratisierung weiter fort; und beanspruchen trotzdem ungeniert die erheblichen EU-Zuwendungen. – Ich frage mich, warum ist die EU so unglücklich konstruiert, dass sie solche Staaten wie Polen und Ungarn nicht einfach wieder aus dem EU-Verbund hinauswerfen kann??! – Eine Hürde ist ganz offensichtlich das Einstimmigkeitsprinzip in wichtigen EU-Entscheidungen. Das wird, glaube ich, der EU noch das Genick brechen. Ein angemessenes Mehrheitsprinzip wäre viel erfolgreicher. Europa war in den letzten 2000 Jahren allerdings noch nie ein Staatenbund, geschweige ein Bundesstaat, sondern ein ziemlich lockerer, diverser Haufe von hoffnungslosen feudalen und später bürgerlichen Egoisten, die erfolglos die Idee des vergangenen Imperium Romanum kopieren wollten.

20.0 Darmstadt 1961-1963, Corps, Gertraut

Nach dem Freisemester in München ging’s im April 1962 mit dem Mathe-Studium weiter an der TH-Darmstadt.

Außerdem trat ich, wohl Mitte 1962, meinem Schulfreund Hans-Günther zuliebe und auch aus Neugierde, wie das mit dem Fechten sei, in das Corps Neoborussia ein. – Eine lächer­lich steife Angelegenheit, die – gerade wegen ihrer Steifheit – in den wöchentlichen CCs durch kräftiges „command-mäßiges“ Bier-Saufen aufgelockert wurde. Mit dem Saufen hielt ich mich zurück, einfach aus dem Grunde, weil ich es nicht besonders vertrug. – Zum Glück! Denn alle meine damaligen Corpsbrüder hat längst das Zeitliche gesegnet (mit Ausnahme meines antialkoholischen  Pauk-Lehrers Heni).

Besonders das Singen der alten Studentenlieder gefiel mir (ich kann viele noch heute). Aber die Altherren-Reden kamen mir vor wie aus der Steinzeit. Im Fechten hatte ich einen guten Lehrer Heni El Nokrashi, ein streng antialkoholischer, muslimischer Ägypter aus vornehmer Familie. Leider musste ich, obwohl ich ja Linkshänder bin, mich mit dem nur rechtshändig vorhandenen Pauk-Zeug einüben. Hätte es bei uns linkshändiges Pauk-Zeug gegeben, wäre ich wohl ein sehr erfolgreicher und ziemlich erbarmungsloser Schläger geworden.

Bei den öfters stattfindenden Corps-Tanzveranstaltungen und den jährlichen Stiftungsfesten war meine Spezialität das Abhalten der sog. „Damenrede“, in die ich meinen Spott über dieses ganze merkwürdige Corps-Gebaren so geschickt versteckte, dass es nie zum Eklat kam, sondern stets zum großen Vergnügen aller gedieh. Ab der ersten Damenrede war ich selbstverständlich der „Damenredner“ in allen folgenden Festen.

Was ich auf den ebenfalls wöchentlich stattfindenden CC-Besprechungen des Corps gelernt habe, ist die Form, wie man eine Vereins-Sitzung in demokratisch geordneter Weise abhält. (Sowas lernte man ja weder auf der Schule noch im Fachstudium.) Später, als ich in anderen Vereinen tätig wurde, wunderte ich mich, dass ich meist einer von wenigen war, der die Form des Abhaltens einer Vereinssitzung beherrschte. Das verschaffte mir so manchen Vorteil, irgendetwas durchzusetzen, das ich für den Verein im Sinn hatte. Ich war beileibe kein Vereinsmensch, sondern meist ein Außenseiter / Häretiker; aber wenn schon „Verein“ (für was auch immer), dann muss wenigstens die Verwaltungs- & KommunikationsFORM stimmen! (Der Inhalt war mir dagegen meist ziemlich egal, wenn’s nicht gerade mein persönliches Anliegen betraf). – Vereinsmenschen sind Herdentiere, die ihre Identität aus dem Verein und nicht aus sich selbst erfahren – bedauerliche Kreaturen! – Sie wissen eigentlich nichts mit sich selbst anzufangen. Das gilt sowohl für studentische Corps oder Burschenschaften als auch für irgendeinen anderen (künstlerischen, politischen oder religiösen) Verein. – Eine wichtige, ironische Erkenntnis für mein ganzes Leben!

Was ich nach dem Vordiplom studiert habe, um schließlich das Mathematik-Diplom zu erlangen, ist für Euch, liebe Leser, ziemlich uninteressant. Erwähnenswert ist nur, dass ich nach dem Vordiplom und dem „Freisemester“ in München auch noch mal an der TH Darmstadt Energie auf etwas verwendet habe, das überhaupt nicht zu meinem Studium zu gehören schien. Zum einen beschäftigte ich mich in einem Zeitgeschichte-Seminar mit dem Widerstand deutscher Offiziere gegen die Nazis. Zu andern entwarf ich ein ganzes Studienobjekt mit dem Titel „Zahlengrundlagen der Musik“ und vergrub mich dafür fast ein  ¾ Jahr in der Hochschulbibliothek im Darmstädter Schloss, ohne besonders viele Fachvorlesungen im Hauptstudienfach Mathematik zu belegen. Der Grund war einerseits ein Musik-Seminar, wo ich etwas über „Musik und Rhythmus bei den (antiken) Griechen“ (nach Trasybulos Georgiades, München) vortrug. Andererseits die intensive Korrespondenz mit Brigitte im Vorjahr: Ich hatte das Bedürfnis, die Begegnung mit dieser außerordentlichen Frau in irgendeinem „Ergebnis“ festzuhalten, das sowohl die „Musik“ als auch mein Hauptstudienfach, die Mathematik, betreffen sollte.

Später, als das Werk längst fertig war – vorerst ohne irgendeinem Studienziel zu dienen, und auch ohne direkten Bezug auf die „Musik-Göttin“ Brigitte – reichte ich es eher „spaßeshalber“ als philosophische Hausarbeit im Philosophie-Fachbereich ein. Es wurde angenommen und hätte dann einen Beitrag geleistet zum Absolvieren des Staatsexamens (als Mathe-Lehrer an Gymnasien). Ich hatte danach aber kein Interesse mehr daran, denn ich stürzte mich als Assistent an einem Fachbereich der THD auf mathematische Veröffentlichungen und auf die Promotion (im Fach Mathematik), was mir weniger langweilig als das Staatsexamen erschien.

Das Jahr 1963 war ziemlich ereignisreich – in jeder Hinsicht: Im Januar proklamierten  Adenauer und De Gaulle die große Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich. Im Oktober gab Konrad Adenauer sein Kanzleramt an den „Wirtschaftswunder-Kanzler“ Ludwig Erhard ab. USA-Präsident John F. Kennedy hielt in Berlin seine berühmte Rede „Ich bin ein Berliner“. Die Bürgerrechtsbewegung in den USA unter Matin Luther King nahm an Fahrt auf mit ihrer Forderung gleicher Rechte für Afroamerikaner. Die katholische Welt bekam einen neuen Papst, Pius VI., nachdem Johannes XXIII nach kurzer Amtszeit starb. Die Raumfahrt machte sowohl in der Sowjetunion als auch in den USA bedeutende Fortschritte. Im November wurde Kennedy ermordet. – Und privat trat Gertraut in mein Leben.

Ich traf mich weiterhin sowohl mit Irm als auch mit meiner alten, rätselhaften Jugendliebe Hanne. Nur 5 Tage, nachdem ich mit Hanne einen sehr schönen Abend verbracht hatte, ereignete sich, im Mai 1963 etwas Unerwartetes: Bernhard R., der Schulkamerad, mit dem ich in der Schulzeit Theater gespielt hatte (er ist schon lange tot) lud mich zu seinem Geburtstag ein. Ich war etwas erstaunt, denn ich hatte nun in Darmstadt wenig Kontakt mit ihm. Wir, Bernhard, Gunther und ich waren zur selben Zeit in München gewesen zum Studieren. Da hatten wir des Öfteren gemeinsam Theaterstücke gelesen, was aber (auf Bernhards Betreiben) bald in sinnlose Sauferei ausgeartet war, so dass ich schließlich nicht mehr hinging.

Warum lud Bernhard mich zu seinem Geburtstag am 23.5.63 ein? – Er hat es mir später beim Waldspaziergang erzählt. Er wollte unbedingt Gudrun, Gunthers Schwester, dabei haben, denn er war unsterblich (und unglücklich) in sie verliebt. Gunther meinte, dann müsse er auch die Gertraut, die jüngere Schwester, einladen, sonst würde Gudrun nicht kommen. Dann aber müsste auch ein Tanzpartner für Gertraut beschafft werden. Dabei verfielen sie komischerweise auf mich.

Ich komme bei Bernhard in die Wohnstube rein, da saß ganz allein eine zierliche, sehr attraktive Person mit offenem, wachem Blick. In der Küche rumorte es, Bernhard war noch in Vorbereitungen. Ich sprach sie gleich mit „Du“ an (das war damals noch nicht üblich, wenn man jemand Unbekanntem begegnete) und plapperte drauf los.

Der Abend war fantastisch! Ich hatte nur noch Augen für Gertraut, tanzte, nur mit ihr; und wir hatten uns viel zu erzählen. Die Zeit verging wie im Flug. Auf einmal war es 4 oder 5 Uhr morgens, und wir machten uns auf den Heimweg. Aus lauter Übermut und Angeberei nahm ich zum Rausgehen nicht die Haustür, sondern sprang aus dem Fenster aufs Eingangsdach und von da auf die Straße. Ich hatte das Fahrrad dabei, setzte sie drauf  und schob sie, soviel ich mich erinnere, bis in die Glässingstraße (da wohnte die Familie Wiltschko). Beim Verabschieden erwähnte Gertraut, dass sie in ein paar Tagen nach England abreisen und dort für ein paar Monate als Aupair-Mädchen tätig sein werde.

Bernhard hatte mein großes Interesse an Gertraut bemerkt. Er hatte nicht so viel Glück mit Gudrun, bat mich um einen Waldbummel und wollte unbedingt wissen, wie ich es fertig gebracht hätte, mich so ungezwungen der Gertraut zu nähern. Ich konnte es ihm nicht erklären, und wir ergingen uns in endlosen psycho-philosophischen Erörterungen. (Ich glaube, wir kamen erst gegen neun oder zehn nach Hause.)

Weil Gertraut bald von der Bildfläche verschwinden würde, lud ich sie für die nächste Woche zu einem TH-Studentenball ein. Ich kam zum Abholen zu spät. Die Verspätung hat sie, wie sie viel später des Öfteren bemerkte, mir sehr übel genommen. An jenem Abend ließ sie sich aber nichts anmerken. Ich merkte nichts von ihrer Verstimmung. Bei uns Studenten war es üblich, zu so einer Veranstaltung mindestens 1 Stunde später zu erscheinen. Der Abschied danach war kurz. Dummerweise hatte ich vergessen zu fragen, wann sie denn nach Deutschland zurückkäme.

Nun ja, dachte ich: es war eine wunderschöne „Episode“. Ob sich etwas daraus entwickeln würde, darüber wollte ich nicht spekulieren. Sie ging mir aber nicht mehr aus dem Kopf, auch wenn ich mit Hanne oder Irm etwas unternahm.

Im Sommer machte ich mit Günter, dem Freund von Schwester Regina, eine große Bergwanderung in den Stubaier Alpen. Wir trafen eine Gruppe Wanderer aus Göppingen, mit der wir weiterliefen. Eine kleine Französin, die auch dabei war – Caudie hieß sie, und konnte ausgezeichnet Deutsch – verknallte sich umgehend in Günter, aber der blieb zur Freundin Regina „treu wie Beton“. Ich hätte sie ihm herzlich gegönnt. Merkwürdigerweise hatte ich die folgenden Jahre mit Claudie die ausgiebigste Briefkorrespondenz der ganzen Studienzeit. Die Themen waren meist politischer Art und läuteten bei mir mit Begeisterung die Stimmung, das Lebensgefühl und die politische Einstellung ein, die später die sog. 68-er Bewegung ausmachten. In Deutschland (und für mich selbst) war es hauptsächlich die große Frage, wie die Eltern eigentlich zur schlimmen Nazi-Zeit gestanden hatten. Man hörte nur Bemäntelungen.

Im Herbst gab‘s mal wieder eine Studenten-Party in Heidelberg, zu der mich ein etwas arroganter Corpsbruder einlud, der scharf auf eine Engländerin war, die dort ebenfalls erscheinen würde. Das war ein Fehler von ihm, mich mitzunehmen. Ich sah die Engländerin, Ginny hieß sie, und hatte einen zärtlichen super Abend mit ihr. Mein Corpsbruder „bekam keine Chance“. Das tat meinem „Ego“ sehr gut, besonders, weil er mich vorher die ganze Zeit etwas herablassend wie einen kleinen Bub behandelt hatte. Sie war Aupair-Mädchen bei einer Familie in Backnang und lernte fleißig die deutsche Sprache. Ich lud sie für den Winter zum Skilaufen auf die Braunschweiger Hütte ein, ohne zu fragen, ob sie überhaupt das Skifahren beherrschte; sie sagte sofort zu.

Ich schrieb der Gertraut nach Ventnor auf der Isle of Wight, bekam aber zunächst keine Antwort. Dann kam ein langer Brief. Und ich bewunderte, was sie alles zu berichten wusste und unternommen hatte, und schrieb sofort zurück. Später, als wir schon verheiratet waren, erzählte sie mir, wie der lange Brief an mich zustande gekommen war: Eine Gruppe von Freunden aus Holland, Frankreich, Österreich und Deutschland, die alle auf der Isle of Wight Praktikum machten und sich in den Freistunden am Strand von Ventnor zu treffen pflegten, hatte sie „beraten“, und das gemeinsame Aufsetzen des Briefes geriet zum köstlichen Amüsement der ganzen Gruppe. Als ich das später hörte, äußerte ich mich dazu „tief gekränkt“, obwohl ich das selbst längst nicht mehr so ernst meinte.

Als es auf den November 1963 ging, schrieb ich eine Postkarte an Gertraut in die Glässingstraße und frage, ob sie wieder in Darmstadt sei, und ob wir uns mal treffen könnten. Ja, kam die Antwort. Sie war bereits auf der Weinlese mit ihrem Freund Hanjer in Nierstein gewesen, und wir trafen uns im „Da Marino“ (nahe der Glässingstraße in Darmstadt) und zwar etwa 1 Tag, nachdem der US-Präsident Kennedy ermordet worden war. Die Zusammenkunft war sehr harmonisch und ungezwungen; ja viel, viel mehr: Ich verliebte mich in sie bis zum „Wahnsinn“. Alle früheren Freundinnen waren mit einem Schlag vergessen. Sylwester 1963 auf 64 feierten wir mit Gunther, Bernhard und anderen in einem Lokal im Johannesviertel (wo wir jetzt wohnen). Das Lokal führte ein ehemaliger Schulkamerad, und Gertraut klaute für mich ein paar Sektgläser, die ich dem Corps zu ersetzen hatte, weil ich auf dem letzten CC in angeheitertem Zustand mit den Gläsern „Billard“ gespielt hatte. Ich war total hingerissen von dieser Hilfsaktion von Gertraut. Ich hatte eine neue „Göttin“!

Es wird in diesen „Lebensgeschichten-CL, Teil2“ zu meiner Gertraut noch viel mehr, viel Wichtigeres, viel Schöneres und auch manch Problematisches zu hören sein! Sie wurde ab 1964 ein untrennbarer Teil meines Lebens.

Ich wünsche Euch allen einen heißen Sommer, in dem es hoffentlich auch regnet, damit der deutsche Wald nicht total vertrocknet.
Christoph

Die Lebensgeschichten-CL/Teil2 werden laufend fortgesetzt.

 

 

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CL/ Stand dieser Seite: vII.3, 20.08.2020